Die Komplexität der ambulanten Pflege wird unterschätzt
Es kursieren gerade Zahlen, die einen Aufwärtstrend in der ambulanten Pflege suggerieren. Doch Experten wie Pflegedienstbetreiber Thomas Meißner (Foto) vom Berliner Verband AVG oder der Jurist Sebastian Froese vom Bundesverband Ambulante Dienste und Stationäre Einrichtungen (BAD) warnen: Das ambulante Geschäft wirke zwar einfach verglichen mit der stationären Pflege, doch es gebe viele Stolperfallen. Das zeigt nicht zuletzt auch die Insolvenz der Investorenhoffnung Kenbi.

AVG Berlin
Thomas Meißner hat 1991 den ersten ambulanten Pflegedienst im Ostteil der Stadt Berlin gegründet
Hilfe bei Inkontinenz durch Blasenschwäche und Übergewicht
Übergewicht ist in Deutschland weit verbreitet: Rund 54 Prozent der Erwachsenen sind betroffen, einschließlich Adipositas. Besonders ältere Menschen leiden häufiger darunter. Ein zu hohes Körpergewicht belastet den Beckenboden und kann zu Blasenschwäche führen. Etwa 3,4 Millionen Menschen in Deutschland kämpfen mit Adipositas und begleitender Urin-Inkontinenz, was häufig zu sozialer Isolation und noch mehr Gewicht führt. Mehr erfahren
Nach der Veröffentlichung des Heimsterben-Atlas vom Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) vor rund zwei Wochen schien die kurz danach vom Datendienstleister Pflegemarkt.com versandte Analyse zur ambulanten Pflege ein Hoffnungsschimmer: Die Zahl der Pflegedienste sei 2024 um 2,2 Prozent gestiegen, es habe weniger Insolvenzen und mehr Verkäufe als 2023 gegeben.
Gibt es also Grund zum Aufatmen? Meißner und Froese sind sich einig, dass Neugründungen nicht notwendigerweise bedeuten, dass das Geschäftsmodell erfolgreich ist. Fest steht für sie aber: Die ambulante Pflege wirkt auf Außenstehende attraktiv. "Es ist relativ einfach, einen Pflegedienst zu gründen. Die Hemmschwelle ist gering: Man muss für die Zulassung nicht viel nachweisen, es sind keine großen Investitionen nötig und die Vorlaufzeit ist kurz. Jede Pflegefachkraft kann im Grunde einen ambulanten Dienst gründen, wenn sie noch zwei Krankenschwestern an der Hand hat", sagt Meißner, stellvertretender Vorsitzender des AVG-Verbands für ambulante und teilstationäre Pflegeeinrichtungen in Berlin.
Hohe Nachfrage kein Garant für wirtschaftlichen Erfolg
Hinzu kommt, dass die Nachfrage groß ist. "Und nicht nur das: Es ist garantiert, dass sie weiter steigen wird. Wer eine Pflegedienst gründet, kann sich also eines großen Kundenpotenzials sicher sein", meint Froese, stellvertretender Geschäftsführer des Bundesverbands Ambulante Dienste und Stationäre Einrichtungen (BAD). "Und in den meisten Branchen lässt sich von einer hohen Nachfrage selbstverständlich auf wirtschaftlichen Erfolg schließen. Aber in der Altenpflegebranche gilt dieser logische Schluss nicht, denn die rechtlichen Rahmenbedingungen lassen wenig Gestaltungsspielraum, denn Preise, Gehälter etc. sind festgelegt. Man ist in dieser Branche kein freier Unternehmer."
So leicht der Einstieg, so schwer ist es nach Unternehmensgründung in der ambulanten Pflege Nerven und wirtschaftliche Stabilität zu bewahren. "Die Bürokratie ist inzwischen ein Irrsinn, es gibt heute deutlich mehr Vorschriften als noch vor 25 Jahren", sagt Meißner. "Um zu bestehen, braucht man in jedem Fall eine gute EDV. Und die kostet, besonders jetzt mit der Einführung der Telematikinfrastruktur. Da kommen Investitionskosten von bis zu rund 30.000 Euro auf einen ambulanten Dienst zu, von denen nur ein Teil refinanziert wird."
"Es gibt bei den Neugründungen sicherlich so manches Strohfeuer"
Gefragt sind Kreditwürdigkeit und Liquidität. Denn es geht nicht nur um Investitionen: Mit der Refinanzierung durch die Pflegekassen und Sozialämter klappe es bekanntermaßen nicht immer, sagt Froese. "Besonders seit dem Tariftreuegesetz gibt es für viele Dienste immer wieder Durchstrecken zu überwinden. Man muss Rücklagen bilden. Die regelmäßigen Personalkostensteigerungen bekommen die Unternehmen meistens auch nicht vollständig refinanziert. Da bleibt jedes Jahr ein kleines Minus und das summiert sich."
Für den Juristen Froese stellt sich die Frage, wie viele neu gegründete Pflegedienste unter den gegebenen Umständen durchhalten. "Da gibt es sicherlich so manches Strohfeuer." Betroffen sind gar nicht mal immer nur die kleinen, unbedarft ins Geschäft geschlitterten Pflegedienste: Die Investorenhoffnung Kenbi, in der Datenanalyse von Pflegemarkt.com noch als "Top-Käufer von insolventen ambulanten Versorgungen" gelobt, hat erst kürzlich Insolvenz angemeldet. Das lässt das zweiprozentige Wachstum 2024 dann doch in einem anderen Licht dastehen.
Kirsten Gaede